Pressemitteilung Nr. 165 / 2004 vom 11.11.2004

zurück

NS-Verbrechen in Amtsstuben hessischer Finanzämter

Wissenschaftsminister Udo Corts stellt das Buch „Legalisierter Raub. Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialismus durch die Reichsfinanzverwaltung Hessen“ von Susanne Meinl und Jutta Zwilling vor

Wiesbaden - „Zwischen 1933 und 1945 gab es in Deutschland nicht nur Verbrecher in Uniform – sondern auch in Zivil, in den Amtsstuben hessischer Finanzämter. Diese bittere Erkenntnis belegt die gründliche Untersuchung „Legalisierter Raub. Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialismus durch die Reichsfinanzverwaltung Hessen“ von Susanne Meinl und Jutta Zwilling“ sagte Wissenschaftsminister Udo Corts bei der Vorstellung des Buches heute in Wiesbaden.

Bis vor wenigen Jahren war kaum bekannt, in welcher Weise die Reichsfinanzverwaltung an der nationalsozialistischen Verfolgung der Juden beteiligt war. Erst in den vergangenen Jahren hat sich die Wissenschaft der fiskalischen Entrechtung und Ausplünderung antisemitisch Verfolgter angenommen und das Thema als Forschungsgegenstand entdeckt. Das Handeln der staatlichen Bürokratie im Gegensatz zur NS-Politik stand über Jahrzehnte weniger im Mittelpunkt der Forschung, obgleich der klassische Verwaltungsapparat die antisemitische und rassistische Politik mit gewohnter Gründlichkeit umsetzte. Finanzbeamte trieben Sonderabgaben wie die »Reichsfluchtsteuer« und die »Judenvermögensabgabe« ein, und verwerteten nach der Deportation das Eigentum der Ermordeten. Nach 1945 waren es bisweilen dieselben Beamten, die in den Wiedergutmachungsbehörden über die Anträge der Überlebenden und der Kinder der Opfer mit entschieden.

Erst eine im Herbst 1998 im Stadtmuseum Düsseldorf eröffnete Ausstellung „Betrifft: ‚Aktion 3’. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn“ rückte die Thematik in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Gezeigt wurden dort einschlägige Unterlagen der ehemaligen Reichsfinanzverwaltung aus dem Bezirk der Oberfinanzdirektion Köln. Entsprechende Akten lagen aber schon damals auch für Hessen vor. Allein das Hessische Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden verfügte über einschlägiges Aktenschriftgut aus der NS-Zeit im Umfang von annähernd 300 Regalmetern, ergänzt durch Unterlagen aus dem Bereich der so genannten Wiedergutmachung im Umfang von rund 1,5 Regalkilometern. Obwohl diese Akten schon seit Mitte der 80er Jahre für Forschungszwecke sowie für Auskünfte an Betroffene genutzt wurden, fehlte es doch an einer zusammenhängenden Darstellung zur fiskalischen Entrechtung und Ausplünderung der Juden unter dem NS-Regime in Hessen.

Das Land Hessen stellte daher im Jahr 1999 die Mittel für ein entsprechendes Forschungsprojekt zur Verfügung. Bereits 1998 hatte das Hessische Finanzministerium die Finanzbehörden des Landes angewiesen, in ihren Aktenbeständen nach weiteren Unterlagen zu suchen, die die Beteiligung des Fiskus an der Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung in der Nazizeit belegen. Aus dem vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst geförderten Forschungs- und Dokumentationsprojekt des Fritz Bauer Instituts „Die fiskalische Entrechtung und Ausplünderung der Juden 1933-1945 in Hessen", das in enger Zusammenarbeit mit dem Hessischen Hauptstaatsarchiv durchgeführt wurde, ging die Publikation von Dr. Susanne Meinl und Jutta Zwilling hervor.

Dr. Susanne Meinl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut. Jutta Zwilling, Historikerin in der Geschichtsagentur „zeitsprung. Kontor für Geschichte“, betreute als Wissenschaftlerin mehrere Ausstellungen zur NS-Geschichte und zur Nachkriegsgeschichte in Hessen. Die Autorinnen zeigen, welche Rolle der Reichsfiskus bei der Entrechtung und Ausplünderung der Juden zwischen 1933 und 1945 spielte. Thematisch und chronologisch gegliedert stellen sie die Verwaltungsabläufe der Ausplünderung antisemitisch Verfolgter dar, und belegen den bürgerlichen wie ökonomischen Tod der Diskriminierten beispielhaft anhand einzelner Biografien. Die an der Vermögensentziehung beteiligten Stellen, ihre Struktur, Aufgaben und rechtlichen Grundlagen sowie die nach 1945 mit der „Wiedergutmachung“ betrauten Behörden werden in diesem Band erstmals systematisch beschrieben. In der Publikation werden sämtliche beteiligten Stellen aufgeführt. Das von dort jeweils überlieferte Schriftgut in den Archiven wird detailliert nachgewiesen. Diese Angaben stehen künftig als Handreichung für die wissenschaftliche Forschung zur Verfügung. Die Studie macht deutlich, dass die Beteiligung des Fiskus am Holocaust die Form eines, wie es in der Publikation heißt, „organisierten Raubmordes“ aufwies, von dem nicht nur der NS-Staat und professionelle „Ariseure“, sondern auch Schnäppchenjäger und „ganz gewöhnliche Nachbarn“ profitierten.

„Das Land Hessen stellt sich seiner Geschichte, auch ihren dunklen Seiten“ sagte Udo Corts bei der Buchvorstellung. „Das ist demokratischer Konsens bei uns. Ein SPD-Finanzminister, Karl Starzacher, hat 1998 die Finanzamtsakten freigegeben, eine FDP-Wissenschaftsministerin, Ruth Wagner, hat das Forschungsprojekt finanziell ermöglicht. Ein CDU-Minister hat die Förderung fortgesetzt. So konnte eine wegweisende Publikation entstehen, die ein schreckliches Kapitel der jüngsten hessischen Geschichte sorgfältig dokumentiert. “


Rückfragen bitte an Elisabeth Abendroth, Tel.: 0611/323471, mobil: 0173/6513745
e.abendroth@hmwk.hessen.de

zurück

SeitenanfangSeitenanfang

 

© Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst